Die Fünf-Prozent-Hürde muss weg! Ein Aufruf.

Das Ansehen der Demokratie sinkt. Abgeordnete werden kaum als Repräsentanten ihrer Wähler gesehen, eher als Marionetten von im Verborgenen agierenden Lobbyisten der Konzerne oder als Befehlsempfänger ihrer Parteileitungen. „Das Volk“, so heißt es oft in fragwürdiger Wortwahl, sei durch sie nicht vertreten. Die Reaktion der Regierungsparteien der vergangenen Jahrzehnte, also CDUCSUSPDFDPGRÜNE, ist: ein Aufruf zur Einigkeit aller Demokraten – gegen das Erstarken der politischen Rechten. Wunderbar! Es gibt einen Feind und alle anderen sind „wir“, die „Guten.“ Aber leider sind das eben gerade die, unter deren Führung das Ansehen der Demokratie gesunken ist, bei denen also die Verantwortung für alle Formen der Entdemokratisierung zu suchen ist.

Es geht nicht nur um das Ansehen der Demokratie, es geht um die Demokratie selbst. Sie kann nur gestärkt werden durch die Weiterentwicklung der Demokratie. Das geht (leider) nicht auf einen Schlag; also muss man irgendwo anfangen, wichtige Ansatzpunkte gibt es viele. Unser Vorschlag würde Raum schaffen für kleinere Parteien mit Zielen, die aus der Basis der Gesellschaft kommen.

Überall wird nach Innovation gerufen, Neues soll gestärkt werden, Start-Ups werden gefördert, weil man weiß: Neues fängt meist klein an. Nur in der Politik soll das nicht gelten. Aktive Bürger werden nur dann gelobt und gefördert, wenn die großen Parteien sie irgendwohin „mitnehmen“ können oder wenn sie sich in Entscheidungsprozesse „einbinden“ lassen. Aber wir wollen uns nicht einwickeln oder fesseln lassen. Wir wollen selbst über das Ziel der Reise entscheiden: Die hier lebenden Menschen sollen über politische Ziele entscheiden können. So geht Demokratie.

Die Handlungsfähigkeit der Regierungen hängt nicht von der 5%-Klausel ab

An die 5%-Hürde hat man sich gewöhnt; wir meinen: zu Unrecht.

Die politische Begründung für die 5%-Hürde lautet meist, dass man die Erfahrungen der Weimarer Republik nicht wiederholen wolle. Man warnt vor einer „Zersplitterung“ des Parlaments und vor der darin liegenden Schwierigkeit, eine stabile (Koalitions-)Regierung zu bilden. Doch diese Begründung ist nicht haltbar.

Das gilt schon für die Weimarer Republik. Die NSDAP errang die Macht nicht, weil zu viele Parteien im Parlament saßen, sondern weil der Nationalsozialismus zur Massenbewegung werden konnte und weil er für entscheidende Teile des Bürgertums im Vergleich zum Sozialismus das kleinere Übel war.

Für die Gegenwart sieht es nicht anders aus. Nimmt man als Beispiel die Bundestagswahl 2013, kann man zeigen, dass die Schwierigkeit der Regierungsbildung durch die 5%-Klausel nicht erleichtert wurde. Für den Einzug ins Parlament waren 2013 ca. 72.500 Stimmen nötig, ohne die Sperrklausel wären damals 15 Parteien in den Bundestag eingezogen – fünf davon mit lediglich ein oder zwei Sitzen. Es hätte aller Wahrscheinlichkeit nach weder für einen „linken“ Block gereicht noch für einen konservativ-liberalen. Es wäre also wohl zu einer großen Koalition und damit zum selben Ergebnis wie in einem Vier-Parteien-Parlament gekommen. Auch ein Parlament mit 15 Parteien wäre also genauso regierungsfähig gewesen, dafür aber wesentlich repräsentativer. Denn im Jahr 2013 scheiterten AfD und FDP knapp an der 5%-Hürde, andere kleine Parteien deutlich.

Die 5%-Hürde verzerrt das Wahlergebnis

Fast 7 Millionen gültiger Stimmen fielen 2013 wegen der Sperrklausel unter den Tisch. Wenn fast 16 Prozent aller wählenden BürgerInnen nicht im Bundestag repräsentiert sind, kann man kaum noch von einer „Repräsentativen Demokratie“ sprechen. Die Gleichheit der Wahl ist deutlich beeinträchtigt.

Die 5%-Hürde kann dazu führen, dass eine Regierungskoalition, die weniger als 50 Prozent der ab-gegebenen Wählerstimmen auf sich vereinigt, eine absolute Mehrheit der Parlamentssitze erhält und damit allein die Regierungspolitik bestimmt. So 2002: Rot-Grün erreichte mit 47,1% 306 von 603 Sitzen.

Die Verzerrung zugunsten der großen Parteien beginnt schon vor der Wahl: Es war z.B. 2017 ja klar, dass Parteien wie „Demokratie in Bewegung“, „Bündnis Grundeinkommen“ oder „Die Partei“ nicht im Bundestag vertreten sein würden. Die Verzerrung besteht darin, dass viele WählerInnen unter diesen Umständen nicht die Partei wählen, die ihrer politischen Haltung am nächsten kommt, sondern diejenige unter den großen, die ihnen am wenigsten zuwider ist.

Dazu kommt: Die Sitze, die ohne 5%-Hürde den kleinen Parteien zugefallen wären, werden den großen Parteien proportional zu deren Wahlergebnis zugeschlagen. Proteststimmen für kleine Parteien kommen also überwiegend gerade den (großen) Parteien zugute, denen der Protest wahrscheinlich am meisten gegolten hat. Das ist vollkommen widersinnig.

Das Bundesverfassungsgericht über Sperrklauseln

Interessanterweise hat das Bundesverfassungsgericht 2011 entschieden, dass auf EU-Ebene die 5%-Klausel gegen das Grundgesetz verstößt, nämlich gegen die Wahlrechtsgleichheit und die Chancengleichheit der Parteien. 2017 entschied das BVerfG über eine Beschwerde v.a. wegen des Fehlens einer „Eventualstimme“ zugunsten der Sperrklausel (Entscheidung vom 19.9.2017 Az 2BvC 46/14 – Rn. (1-119). Es sieht die Wahlrechtsgleichheit als rein formale Regelung.

„Differenzierungen“ dabei seien möglich, wenn die Verfassung selbst sie legitimiere. Es gehe hier um das Ziel der Wahl „als eines Integrationsvorgangs bei der politischen Willensbildung des Volkes“ und der „Sicherung der Funktionsfähigkeit der zu wählenden Volksvertretung“ (Abs.61f). Das Gericht hält die vorhandenen Regelungen mit diesem Ziel für verfassungsgemäß, ergänzt aber, dass es nicht beurteilt, ob sie auch die am besten geeigneten sind. Das heißt, es beurteilt auch nicht, ob sie überhaupt notwendig sind. Es erkennt auch durchaus die Gefahr, dass die parlamentarische Mehrheit nicht im Sinne des Gemeinwohls Gesetze erlässt, sondern um des eigenen Machterhalts willen (Abs.63). Die 5%-Klausel begründe aber keinen Wahlfehler, da sie dem legitimen Ziel diene, „die Handlungs- und Entscheidungsfreiheit des Parlaments zu sichern“ (Abs.67). Also: Auf Bundesebene hält das Bundesverfassungsgericht ein „funktionsfähiges Parlament“ für ein höheres Gut als die möglichst exakte Widerspiegelung des politischen Willens der Wähler. Es urteilt aber nicht, dass die 5%-Klausel notwendig ist.

Die Spannung zwischen Sperrklausel und Demokratie ist dem Gesetzgeber bewusst

Bemerkenswert ist, dass Parteien in den Genuss der staatlichen Parteienfinanzierung kommen, sobald sie 0,5% der Wählerstimmen auf sich vereinigen können – mit der ausdrücklichen Begründung einer „Verankerung dieser Parteien in der Gesellschaft“. Für eine Repräsentation im Bundestag jedoch reicht diese Verankerung offensichtlich nicht aus. Dieser Widerspruch ist nur damit zu erklären, dass die großen Parteien, die alle an der Macht beteiligt sind, diese Macht erhalten und ihre Konkurrenz im politischen Wettbewerb unschädlich machen wollen. Langfristig führt dieses Verhalten aber zu Politikverdrossenheit und geht auf Kosten der Demokratie.

Die 5%-Hürde ist das Mittel dazu, die Regelung der Parteienfinanzierung ist das Eingeständnis, dass das Wahlrecht die Gleichheit der Wahl verletzt. Ihre Wirkung bleibt symbolisch.

Der wirkliche Grund für die Sperrklauseln

In der BRD herrschte anscheinend von Anfang an ein Misstrauen gegen die breite Bevölkerung – durchaus nachvollziehbar angesichts der überwältigenden Unterstützung des NS-Regimes bis zum Kriegsende. Die Gründung der beiden deutschen Staaten fand dann schon im Zeichen des beginnenden Kalten Krieges statt. Nun galt es, den Einfluss der politischen Linken, der sogar noch im Ahlener Programm der CDU spürbar war, möglichst auszumerzen. Dazu gehörte später (1956) auch das Verbot der KPD (auch die als NS-Nachfolgepartei eingestufte SRP war 1952 verboten worden); 1949 erreichte die KPD noch 5,7%, 1953 – kurz nach dem „Volksaufstand“ in der DDR – nur noch 2,2%. In diesem Zusammenhang ist wohl auch die 5%-Klausel zu sehen, die es von Anfang an gab (http://www.documentarchiv.de/brd/1949/wahlges.html.). Im ersten Bundestag bezog sie sich freilich auf die Bundesländer: Wenn eine Partei 5% der Stimmen in einem Bundesland erreichte, zog sie in den Bundestag ein. Das begünstigte regional gut verankerte Parteien. Erst mit der Wahlrechtsänderung 1953 wurde die heute gültige Version eingeführt. Bis 1953 war es außerdem möglich, als kleine Partei mit nur einem direkt gewonnenen Wahlkreis entsprechend dem erzielten Stimmenanteil insgesamt in den Bundestag einzuziehen. Später waren drei Direktmandate dafür nötig. Im ersten Bundestag saßen deshalb 11 Parteien und drei unabhängige Abgeordnete (https://de.wikipedia.orgwiki/Bundestagswahl_1949#Endergebnis), im zweiten Bundestag immer¬hin noch sieben Parteien, davon zwei nur mit ihren Direktmandaten.

Dass die Regierungen der ersten und zweiten Legislaturperiode nicht regierungsfähig waren, würde wohl niemand behaupten.
Es gibt eine neue Diskussion über eine Sperrklausel bei Europawahlen – ganz ausdrücklich mit dem Ziel, kleine Parteien aus dem Parlament herauszuhalten (https://www.sueddeutsche.de/politik/europawahl-sperrklausel-kleinparteien-1.4006378)

Ein buntes Parlament ist demokratischer

Dass eine größere Zahl politisch sehr unterschiedlicher, z.T. fraktionsunabhängiger Abgeordneter die Bildung einer Koalition schwieriger machen könnte und die Planbarkeit der Verabschiedung von Gesetzen mehr von dem unterschiedlichen Willen einzelner Abgeordneter als von der Planung in den Fraktionsspitzen der großen Parteien abhinge, mag sein. Politik auf Befehl von oben wird immer effizienter sein als von den BürgerInnen ausgehende politische Meinungsbildung. Vielleicht ist China dafür ein Beispiel. Eine Demokratie aber braucht freie Entwicklung. Ein bunterer Bundestag kann das befördern. Die Sperrklausel sperrt ja nun gewiss nicht Hass, Hetze und schon gar nicht hohle Phrasen aus dem Bundestag aus. Wenige Abgeordnete könnten (bei entsprechend reformierter Geschäftsordnung) Debatten über umstrittene Politikfelder herbeiführen. An Sachfragen orientierte Plenardebatten wären eine wünschenswerte mögliche Folge, der Rückgang von Parteikalkül ebenso. Das Wort „Koalition“ kommt im Grundgesetz nicht vor. Wechselnde Mehrheiten müssen nichts Schreckliches sein, sondern Teil lebendiger Demokratie. Fraktionszwang muss in Theorie und Praxis ausgeschlossen sein. Gesetze können von der Mehrheit auch gegen den Willen der Regierung beschlossen werden. Eine Minderheitsregierung ist keine minderwertige Regierung, sondern eine, die mehr auf die Legislative hört als sie zu lenken versucht, wie das jetzt die Regel ist. Das wertet das demokratische Grundprinzip der Gewaltenteilung auf. Das Interesse an Demokratie als Selbstbestimmung durch die Menschen würde ohne 5%-Hürde zunehmen, Demokratie könnte vielleicht wieder als etwas Interessantes erlebt werden, das unser Leben beeinflusst.

Gewiss: Demokratie kann mühsam sein – das ist sie uns wert.

Fazit

Fehlte die Sperrklausel, wäre manches besser, aber die Demokratie noch lange nicht gut. Wir wollen mehr als der (sprichwörtliche) Teufel: Nicht nur den kleinen Finger, nicht nur den ganzen Arm, sondern die ganze Demokratie, die wir zusammen erfinden müssen. Aber erst mal ganz bescheiden:

Es wird Zeit, im Sinne der Repräsentativität und der demokratischen Legitimation von Wahlen einen Anfang zu machen mit der Demokratisierung der Demokratie.

Wir fordern deshalb die Abschaffung der 5%-Hürde; ca. 70.000 WählerInnen sind genug um eine Stimme im Parlament zu haben.

Wir rufen auf: Parteien, politische Initiativen, zivilgesellschaftliche Organisationen und Einzelpersonen: Erzeugt gemeinsam den nötigen Druck zur Abschaffung oder wenigstens Senkung der 5%-Hürde.
Allererster Schritt: Unterstützungserklärungen an: http://www.vaihinger-manifest.de

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